Ulrich Martin, der Referent beim Septembertreffen der Weinheimer Weingilde, befasst sich seit etwa zwölf Jahren mit einem Thema, zu dem er in seinen Worten wie die Jungfrau zum Kind gekommen war. Denn er nutzt die Erfahrung aus seinem eigentlichen Beruf der Rebvermehrung, sprich er hat eine Rebschule, und seiner Ausbildung als Winzer (Lehre bei Bassermann-Jordan, Besuch der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt Weinsberg), um Rebsorten, von denen vielleicht nur noch ein einziger Stock existiert, so weit zu vermehren, dass Winzer sie wieder nutzen können. Und das kam so: Der Botaniker und Ampelograf Andreas Jung begann vor rund zwanzig Jahren, Hinweisen auf Rebstöcke nachzugehen, bei denen niemand wusste, um welche Sorte es sich handelte. Er beurteilte rund 400000 Rebstöcke visuell und stieß dabei auf fast 400 unbekannte Rebsorten, die zum Teil 8000 Jahre alt, aber oft schon vor mehreren hundert Jahren aus dem Anbau verschwunden waren. Um die Eigenschaften dieser alten Sorten beurteilen zu können, brauchte Andreas Jung aber mehr Rebstöcke, und so kam er auf Ulrich Martin zu und bat ihn, seine Reben zu vermehren.
Ulrich Martin riss die Anwesenden mit seiner Begeisterung für das Thema mit und bot eine Menge an überraschenden Informationen. So kann man die Geschichte des Weins zeitlich viel weiter als bis Georgien zurückführen, denn es gibt Belege dafür, dass sich Rebsorten aus Fernost, die bei einer durch die Misox-Schwankung (eine über hundert Jahre andauernde Abkühlung der Erde, die in Asien dazu führte, dass 200 Jahre lange der Monsun ausblieb) ausgelösten Wanderbewegung nach Westen mitgenommen wurden, mit Rebsorten in Vorderasien gekreuzt haben. Verblüfft hat auch, dass es in Deutschland bis zur Reblauskatastrophe mehr autochtone Rebsorten gab als in Italien oder Portugal heute. Leider wurden danach nur wenige Rebsorten in die Liste der für den kommerziellen Anbau zugelassenen Sorten aufgenommen. Ein Rückgriff auf die „vergessenen“, von Martin als historische Rebsorten bezeichneten Sorten könnte also enorm zur Biodiversität im Weinbau beitragen. Da viele dieser historischen Rebsorten zudem deutlich robuster sind als die heute dominierenden, könnte man mit ihnen auch die Folgen des Klimawandels dämpfen.
Martin baut seine weißen Weine anders als seine roten aus. Erstere werden im Stahltank, aber auch im Tonneau mit neutralen Reinzuchthefen hergestellt, zweitere ausschließlich in Holzfässern unterschiedlicher Größe auf der Maische spontan vergoren und danach zwei Jahre schwefelfrei auf der Feinhefe gelagert.
Die Namen der Rebsorten der Weine an diesem Abend wurden nicht von Jung und Martin erfunden, sondern in alten Aufzeichnungen entdeckt. Der erste Wein, ein Grünfränkisch, ist für Martin der einfach zugängliche weiße Einstiegswein, und ihn findet man auch schon bei einigen Winzern im Anbau. Sein Name allerdings ist ein Problem, denn er passt nicht zur aktuellen Regelung im Weingesetz, nach dem Regionenangaben nur erlaubt sind, wenn der Wein aus der entsprechenden Region kommt. Der Grünfränkisch hat aber nichts mit dem heutigen Franken zu tun, sondern bezieht sich auf das Frankenreich zur Zeit von Karl dem Großen. Ob es Jung und Martin gelingen wird, die zuständigen Beamten von ihrer Sicht zu überzeugen, steht noch nicht fest. Martin enthüllte auch, dass der Grünfränkisch der Hauptbestandteil im Mischsatz für die klassischen Wormser Liebfrauenmilch-Weine war.
Da Jung sehr viel mehr interessante Rotwein- als Weißweinsorten gefunden hat – was belegt, dass der Wein in seiner Frühzeit rot war –, wechselte schon der zweite Wein die Farbe: 2022 hatte Martin versuchsweise einen Teil des Schwarzblauen Rieslings als Rosé ausgebaut. Danach folgten lauter Rotweine aus den Jahren 2019 und 2020 – schließlich dürfen diese Weine bei Martin lange im Fass reifen: ein Schwarzurban, ein Süßschwarz, ein nun im Barrique rot ausgebauter Schwarzblauer Riesling, ein Fränkischer Burgunder, ein Hartblau und ein Blauer Traminer.
Zu jedem der Weine gab es spannende Geschichten zu hören, die aus Platzgründen aber denen vorbehalten bleiben müssen, die am Abend anwesend waren. Beispielsweise gilt Süßschwarz als die Urmutter unserer Kultureben, denn die Eltern waren hier noch Wildreben, die sich durch Aussäen vermehrt haben, während unsere Kulturreben nur noch über Stecklinge vermehrt werden, damit sich ihre Merkmale nicht ändern. Und Süßschwarz ist zugleich die Mutter unseres heutigen Spätburgunders. Der Fränkische Burgunder, eigentlich der ECHTE späte Burgunder, wiederum ist sehr robust und war früher die Rebsorte nördlich der Alpen. Für Martin ist es die edelste seiner Sorten. Mit großem Applaus wurde Ulrich Martin verabschiedet.
Hier geht’s zur Homepage des Projekts Historische Rebsorten.
Verkostete Weine
2022 | Grünfränkisch, Weißwein, feinherb „Wein der Liebfrauenmilch“ |
2022 | Schwarzblauer Riesling Rosé, trocken „Die Schwarze aus Heidelberg“ |
2020 | Schwarzurban, Rotwein, trocken „Kind des Trollingers“ |
2020 | Süßschwarz, Rotwein, trocken „Urmutter unserer Kulturreben“ |
2020 | Schwarzblauer Riesling, Rotwein, trocken „Die Schwarze aus Heidelberg“ |
2020 | Fränkischer Burgunder, Rotwein, trocken „Der späte Burgunder“ |
2019 | Hartblau, Rotwein, trocken „Älteste Rebsorte Deutschlands“ |
2020 | Blauer Traminer, Rotwein, trocken „Wein der Merowinger“ |